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Der Erste Weltkrieg

 

 

Im Jahr 2014 jährte sich der Ausbruch des Ersten Weltkrieges, der "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts", zum einhundertsten Mal und wurde damit wieder in das Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit gerückt. 2016 stehen bereits die 100. Jahrestage der Schlachten bzw. „Knochenmühlen“ von Verdun und der Somme an. Im Jahr 2017 folgen Jubiläen wie der 100. Jahrestag der russischen „Oktober-Revolution“ und dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten. Abgesehen von der jüngst erlebten Diskussion um den Völkermord an den Armeniern durch osmanische Truppen 1915 und der parallel erfolgten Feier zur Gallipoli-Schlacht durch die türkische Regierung scheint hierzulande dieses Jahr die Politik und Öffentlichkeit hingegen keine vergleichbaren Jubiläen zu kennen, obwohl im Jahr 1915 der Krieg sicherlich auch auf dem europäischen Kontinent nicht ruhte. Dass die Weltkriegsgedenkfeiern in diesem Jahr scheinbar pausieren, mag vor allem damit zusammenhängen, dass sich die größten militärischen Ereignisse 1915 in Osteuropa abspielten. Die folgende Darstellung soll daher nicht gebetsmühlenartig die Entstehungsgeschichte des Ersten Weltkrieges, die Juli-Krise oder die besser bekannten Ereignisse, Entwicklungen und Schlachten auflisten und erläutern, sondern vielmehr etwas von dem Teil des Krieges präsentieren, von dem die Deutschen medial nicht so viel erfahren werden und der doch gerade mit Blick auf die aktuellen Krisen in Osteuropa umso wichtiger ist: Die Ostfront des Ersten Weltkrieges und das damit verbundene gigantische Ringen der drei osteuropäischen Großmächte des Deutschen Reiches, Österreich-Ungarn und des Russländischen Reiches. Dabei will ich einige allgemeine Besonderheiten, aber auch Parallelen der Ostfront im Vergleich zur Westfront aufzeigen und dem interessierten Leser somit ein grobes Bild der Grundthematik meiner Dissertationsarbeit und meines wichtigsten Forschungsfeldes im Themenkomplex der Kultur- und Militärgeschichte des Ersten Weltkrieges liefern.

 

Im Gegensatz zu Frankreich und Großbritannien, wo der „Große Krieg“ in der Politik, der Erinnerungskultur sowie in der historischen Forschung bis heute überaus präsent ist, geriet der Erste Weltkrieg in Deutschland und Russland eher in den Hintergrund des Interesses. Der Osten Europas ist sicherlich nicht die einzige Front des Ersten Weltkrieges, die in der gesellschaftlichen Erinnerung weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Die Vorgänge auf dem Balkan, im Nahen Osten oder gar in Afrika und Fernost sind in der Öffentlichkeit zweifellos noch weniger bekannt. Wer weiß schon, dass deutsche Offiziere ganze Frontabschnitte im Osmanischen Reich kommandierten und dass im Frühjahr 1918 ein 18.000 Mann starkes deutsches „Asienkorps“ im Nahen Osten kämpfte?

Die russische Wahrnehmung des Krieges steht für eine atemberaubend schnelle und radikale Umdeutung von Kriegswirklichkeit und -Erfahrung schon während der Kriegsjahre. Der Erste Weltkrieg ist nicht in die russische Erinnerungskultur eingegangen, sondern durch die Ereignisse der Revolution von 1917, des Bürgerkrieges von 1918 bis 1921, des stalinistischen Terrors und der großen Hungersnöte der 1930er Jahre sowie des Großen Vaterländischen Krieges 1941 bis 1945 ausgeblendet und zum "vergessenen Krieg" geworden. Schlecht konnte man in der Sowjetunion erklären, dass die Wurzeln des Staates nicht in einer glorreichen Revolution im Oktober/November 1917, sondern im gewaltigen Aderlass der Zarenarmee zwischen 1914 bis 1916 lagen. Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991, der Öffnung der sowjetischen Archive und der aktuellen Rückbesinnung Russlands auf sein zaristisch-imperiales Erbe, geriet der Erste Weltkrieg wieder langsam in den Fokus der russischen Historiographie.

In der kollektiven Erinnerung Deutschlands ist das blasse Bild des Ersten Weltkrieges dagegen geprägt vom Trauma des modernen, technisierten Krieges an der Westfront, während die Ereignisse und Kämpfe an der Ostfront in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg in Vergessenheit gerieten. „Im Osten nichts Neues“ – mit diesem Schlagwort konnte man daher über viele Jahre hinweg die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Kriegführung an der Ostfront grundsätzlich umschreiben.  Nach 1945 fiel der Erste Weltkrieg, überlagert vom Schatten des Vernichtungskrieges der Wehrmacht und der SS in der Sowjetunion und des Holocausts, dem allgemeinen Vergessen anheim. An der weitgehenden Vergessenheit der Ostfront des Ersten Weltkrieges hat sich bis heute kaum etwas geändert. Die wenigsten Deutschen könnten - wohl mit Ausnahme der Schlacht von Tannenberg - auch nur eine weitere Schlacht an der Ostfront benennen.

Es gab zwar bei den Kämpfen zwischen 1914 und 1918 in Osteuropa auch zeitweise starre Frontlinien, Schützengräben und Befestigungsanlagen, jedoch nahmen sie nicht diese dominierende Stellung ein, die ihnen am Isonzo oder an der Westfront zukam. Denn der Erste Weltkrieg zeigte in dem riesigen Gebiet zwischen Baltischer See im Norden und den Kämmen der galizischen Karpaten im Südwesten bis zu den Ufern von Pruth, Dnjestr und Bug im Südosten und Osten, ein vielschichtiges Bild. Der Krieg in Osteuropa hatte schon allein aufgrund des betroffenen geographischen Raumes, aufgrund der hohen Mobilität und aufgrund der gesellschaftlichen Beschaffenheit ein anderes „Gesicht“ als die so wirkmächtigen Szenarien an der Westfront: Viele Abschnitte waren durch die Eisenbahn gar nicht gut genug erschlossen, um dort ähnliche Material- und Menschenmassen wie an der Somme, Verdun oder in Ypern überhaupt zusammenzuziehen.

Das im Frühjahr und Herbst gleichermaßen, sowie teilweise auch im Winter zu tiefen Schlammpisten mutierende Straßennetz stellte zudem für die Logistik eine entscheidende Herausforderung dar und prägte nicht zuletzt auch die Erfahrungen der deutschen, österreichisch-ungarischen und russischen Kriegsteilnehmer, die an den Gewaltmärschen, dem Hunger und der Kälte zu leiden hatten. Hinzu kam, dass sich die östlichen Linien im Vergleich zur Westfront zeitweise auf fast über die doppelte Distanz erstreckten. Auch wenn das Pferd bis 1918 – und noch weit darüber hinaus – hier eine entscheidende Rolle in der Kriegsführung innehatte, war der Einsatz von neuen, mörderischen Technologien auch im Osten nicht geringer: Die kavalleristische Aufklärung, die noch im Sommer 1914 eine gewisse Rolle gespielt hatte, wurde bald durch Aufklärung aus der Luft, d.h. durch Flugzeuge, Fesselballons oder Zeppeline ersetzt; hinzukam die aufgrund der Distanzen besonders wichtige Kommunikation über Telegraphie und Funk; auch die schwere Artillerie wurde keinesfalls in geringerem Maße eingesetzt, die oft stunden-, später tagelangen Angriffsvorbereitungen waren an der Ostfront um nichts weniger mörderisch als an der Westfront – angesichts der oft in geringerer Tiefe liegenden Stellungen und der Bewegungen gestaltete sich das Artilleriefeuer zudem unberechenbarer als an anderen Kriegsschauplätzen. Giftgas wurde von deutschen Truppen an der Ostfront – wenn auch wenig erfolgreich – überhaupt das erste Mal eingesetzt (und zwar am 31. Januar 1915 bei Bolimów in der Nähe von Warschau).

 

Eine direkte Folge der hohen Mobilität war, dass der „Große Krieg“ in Osteuropa nicht nur aus militärischen Operationen bestand, sondern auch Besetzung und Besatzung bedeutete. Wechselseitig wurden riesige fremde Territorien in Besitz genommen: die Bukowina und der Großteil Galiziens 1914-1915/16 durch russische Truppen; „Kongress-Polen“ durch deutsche und k.u.k. Truppen ab 1915; das von Hindenburg und Ludendorff errichtete und zwischen 1915 und 1918 zwischen Baltischer See sowie Volhynien bestehende Militär-Kolonialgebiet des „Oberbefehlshabers Ost“; Ostgalizien und Bukowina wiederrum 1916 durch die russischen Truppen nach der Brusilov-Offensive; Nordbessarabien, die Ukraine, Weißrussland, die Krim und der Großteil des Baltikums kamen schlussendlich 1917/18 unter Verwaltung der Mittelmächte. Bei der Ausbeutung und Beherrschung dieser riesigen Territorien waren Hunderttausende Truppen im Einsatz. Sie wurden nun mit Verwaltungsaufgaben konfrontiert, häufig auch mit der Unterdrückung von Widerstandsbewegungen, kulturellen und außenpolitischen Missionen, aber vorwiegend mit der kriegswirtschaftlichen Nutzbarmachung der vorhandenen Ressourcen. Dafür gab es kaum Vorkriegspläne, geschweige denn Ausbildung für Soldaten und Offiziere.

Ein weiteres wichtiges Charakteristikum des Ersten Weltkrieges in Osteuropa ist das Fehlen einer klaren zeitlichen Abgrenzung zur Nachkriegszeit. Zwar begannen die Kämpfe unmittelbar nach Ausbruch des Krieges, und die Ostfront bildete ab 1914 eindeutig den zweiten Hauptkriegsschauplatz nach der Westfront, allerdings vermögen die historischen Tatsachen kein klares zeitliches Ende anzubieten. Ein Dilemma, das bislang auch in historiographischer Hinsicht noch nicht befriedigend gelöst worden ist. Hörte die Ostfront mit dem Zusammenbruch des Zarenreiches in der Februar-Revolution oder mit dem Brester Waffenstillstand vom Dezember 1917 auf zu existieren, mit dem Ende der wiederaufgenommenen Kämpfe zwischen Februar und April 1918, dem Zusammenbruch der Mittelmächte im Oktober/November 1918 oder etwa erst mit dem Ende der „Nachwehen“ durch den Frieden von Riga im März 1921, der Osteuropa zumindest für die folgenden eineinhalb Jahrzehnte ordnete? Diese Frage stellt sich umso mehr, als die wichtigsten handelnden Akteure oft lediglich die Uniform wechselten – manchmal nicht einmal dies; für die betroffene osteuropäische Zivilbevölkerung hatte die Erfahrung von Gewalt ebenso im November 1918 noch lange kein Ende gefunden. Zwar legte die Gründung der Sowjetunion am 30. Dezember 1922 die zwischenstaatlichen kriegerischen Auseinandersetzungen vorerst auf Eis. Die Geschichte der Gewalt in Osteuropa sollte jedoch auch danach in unverminderter Härte fortgeführt werden.

 

Dass dieses augenscheinlich heterogene Kriegsbild an der Ostfront auch die Erfahrungen der dort eingesetzten Soldaten prägte, ist klar; in diesem Zusammenhang drängt sich allerdings die Frage nach dem „Wie“ auf. Fast paradigmatisch stehen Thesen im Raum, die sich vor allem aus der Rückschau ergeben: Deutschland habe mit seiner Kriegserfahrung im Osten die verweigerte deutsche Kolonisation kompensiert und so „den Osten“ als koloniales Kampfgebiet für sich entdeckt. Der Krieg habe unter den Soldaten zu einer Radikalisierung ihres Antisemitismus und Antislawismus sowie ihrer nationalen Selbstwahrnehmung geführt. Auch habe die Kriegs- und Besatzungserfahrung eine Verrohung und Radikalisierung, insbesondere in der Behandlung von Zivilisten, mit sich gebracht. Doch inwieweit lassen sich diese Thesen in Zusammenhang mit den historischen Tatsachen bringen beziehungsweise wie rechtfertigen sie, dass die meisten Kriegsverbrechen an der Ostfront zu Beginn des Krieges an der „eigenen“ Bevölkerung, etwa von den k.u.k. Truppen 1914 in Galizien, verübt wurden? Bei der Besatzung der Ukraine 1918 durch deutsche und österreichisch-ungarische Truppen wurde zwar mit großer Härte gegen bolschewikische Kämpfer vorgegangen, ein massenhaftes, systematisches, willkürliches Vorgehen gegen Zivilisten ist aber nicht zu diagnostizieren. Was war in den vier Jahren passiert, dass die Truppen in der weitaus chaotischeren, vom Bürgerkrieg erschütterten, nur schwer zu kontrollierenden Ukraine und noch dazu gegenüber einer „fremden“ Bevölkerung mit größerem Bedacht vorgingen? Auch ein allgemeiner, radikalisierter Antisemitismus ist nur bedingt festzustellen; die Besatzungstruppen traten vielmehr als Beschützer der jüdischen Bevölkerung und als Streitschlichter auf. Dies ist nicht mit purem Pragmatismus zu erklären: Natürlich wollten sie das Land wirtschaftlich ausbeuten und langfristig an sich binden, jedoch offenbart etwa das deutsche Vorgehen im Baltikum eine ganz andere Politik.

 

Die eigentlichen kulturellen und ethnischen Verhältnisse im Osten Europas waren vor allem den Offizieren und Soldaten auf deutscher und russischer Seite bei Kriegsbeginn weitgehend unbekannt, sie erlebten einen regelrechten Kulturschock. Die meisten russischen Soldaten – vor dem Krieg meist einfache Bauern – hatten trotz der durchaus vorhandenen Wahrnehmung Russlands als multiethnisches Imperium nicht viel mehr von der Welt gesehen als das Dorf in dem sie aufgewachsen waren und bis zu ihrer Einziehung zum Kriegsdienst lebten. Dass sie nun in Regionen des Russländischen Reiches kämpften, in denen Russisch fast gar nicht gesprochen wurde und der Großteil der Bevölkerung aus Polen, Litauern, Letten, Esten, Juden, Ukrainern, Weißrussen, Ruthenen und sogar Deutschen bestand, erweckte für sie kaum den Eindruck ihr eigenes Volk zu verteidigen oder in der Heimat zu kämpfen. Von den deutschen Soldaten konnte eine noch geringere Kenntnis der Verhältnisse im Osten Europas erwartet werden, besonders für jene Truppenteile, deren Heimat westlich und südlich der Elbe lag. Deutsche und russische Soldaten sahen sich an der Ostfront einer völlig neuen Situation ausgesetzt, die sie nicht mit Althergebrachten erklären und verstehen konnten. Da sich die Kampfhandlungen an der Ostfront zwischen 1914 und 1917 weitestgehend auf einem Gebiet abspielte dessen Bevölkerungsteile den verschiedensten Ethnien und Sprachkulturen angehörten, verflüchtigte sich auch für die Deutschen die Vorstellung eines einheitlichen russischen Imperiums zügig. Die deutschen Quellen zeigen nahezu einstimmig, dass die meisten Deutschen sich beim Grenzübergang ins russische Mittelalter versetzt fühlten und der Zivilbevölkerung mit ihren unbekannten Lebensgewohnheiten begegnete man meist mit einem Mix aus Befremdung und Faszination. Auch gegenüber dem bewaffneten Feind hatte man ambivalente Einstellungen. Einerseits herrschten von Kriegsbeginn an in allen Kriegslagern Vorurteile gegenüber dem Feind vor, die von offizieller Seite durch ausgegebene Feldpostkarten und Frontzeitungen gezielt gefördert wurden, doch wurden diese andererseits bei zahlreichen Gelegenheiten im Feuer oder Feuerpausen revidiert und in gegenseitigen Respekt und Achtung umgewandelt. Während sich also an der Westfront „nichts Neues“ abspielte, die Deutschen und ihre Kriegsgegner trotz aller technischen und mörderischen Neuheit des Krieges in einer kulturell meist vertrauten Umgebung kämpften, bot sich im „Osten viel Fremdes“.

 

Hintergrundbild: William James Aylward, On the Trail of the Hun - St. Mihiel Drive, 1918, National Museum of American History, Kenneth E. Behring Center.

 

 

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© 2015 by Tim Altpeter

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